Zum Umgang mit Wahrheit

Erfahrungs- und reflexionsorientierte Lernsituation zu eigenen Erlebnissen und Berichten von Pflegenden zum Umgang der unterschiedlichen Personen mit "Wahrheiten" bei existenziell und lebensbedrohlichen Erkrankungen,

Gliederung

Der Fall

1. aus einer Diskussion mit Praxisanleiter*innen (PA)

PA1: Da ist so eine schleichende Geschichte bei uns, die auch viele belastet und auch manchmal nervt. Wir haben viele jüngere Krebspatienten, um die 50 und auch unter 50, was ja als jünger zu bezeichnen ist dann, und wir wissen ja auch oft die Diagnose durch Visiten oder durch Nachfragen, weil die Ärzte da auch ganz selten mit rüberrücken oder wenn die Diagnostik abgeschlossen ist, kann man sich ja auch selbst zusammenreimen, was da Sache ist, dass die oft selbst ganz lange im Unklaren gelassen werden, dass die dann oft davon ausgehen, sie haben etwas harmloseres, wir aber immer schon mit den Gedanken, dass uns das Leid tut, weil die auch oft Kinder haben, da möchte ich manchmal die Ärzte schütteln und sagen: Nun komm, hier: Klartext! Damit wir auch anders arbeiten können. Das ist sehr, sehr belastend, gerade in letzter Zeit wieder. […] – ich weiß nicht, das finde ich sehr unehrlich alles, gerade ein jüngerer Mensch hat das Recht, zu erfahren, wie es um ihn steht, und das finde ich so sehr schlimm, zusätzlich zu den Sachen, die man sowieso erlebt.
SM: Haben Sie da ein Beispiel aus der letzten Zeit?
PA1: Wir haben da grade eine Patientin, 47/48, also der geht’s wirklich schlecht teilweise, also schlecht eben, weil sie ständige Übelkeit hat, zwei Operationen hatte, und in den letzten zwei Monaten fast nur bei uns war – und, ja der ist halt immer übel und sie sagt, das hat alles keinen Sinn mehr […] Und sie guckte dich dann immer so an, so dass ich dachte: gleich kommen wieder die Fragen, oder gar nichts, und da weißt du gar nicht, was du sagen sollst.
SM: Hmhm. Und wie war die Diagnose? Also, weil Sie ja eingangs gesagt hatten /
PA1: Die hat Nebennierenkrebs gehabt, also vor zwei Monaten operiert, aber jetzt immer noch Darmgeschichten (?), auch schon was entfernt worden, wo ich aber nicht so genau weiß, war das jetzt nur ne Verengung oder war da jetzt schon wieder ein neuer Tumor, das ist alles so’n bisschen offen, auch von den Ärzten, von denen man nicht immer gleich was erfährt. Ja gut, auch wenn wir’s wüssten, wir dürften den Patienten ja auch nichts sagen, ne
PA2: Das ist es ja, wir dürfen es nicht sagen, wenn die Angehörigen oder ihr Mann fragt, dann sage ich immer: Da müssen Sie den Doktor fragen. […] Das finde ich sehr belastend, und das ist nicht so was Konkretes sondern eben was, womit man sich ständig irgendwie beschäftigt.
SM: Und in dem speziellen Fall, wie war das da?
PA1: Sie ist noch bei uns, und es war auch so, dass sie jetzt am Wochenende immer ein paar Stunden nach Hause gehen durfte. Wir haben gesagt, sie soll mit ihrem Mann das schöne Wetter nutzen, auf einen kleinen Spaziergang, auf den Freimarkt gehen, einfach mal gucken und nicht immer nur an ihre Krankheit denken. Einfach mal sehen – aber ich weiß immer nicht, wie es mit ihr weiter geht, ob die Bestrahlungen haben soll, oder gar keine, so was weiß ich alles nicht.
SM: Ah, ja, das wird dann auch im Team nicht besprochen dann.
PA1: Nee, wir erfahren dann mal dies und mal jenes oder können uns durch die Diagnostik, die ja teilweise mit Kurzberichten hochkommt, wenn sie von der Gastro oder so wiederkommt, dann sehen wir schon: Aha, da war was, oder da war nichts, oder da ist was unklar. Also wir für uns reimen das schon immer zusammen, aber so die Ärzte halten sich da immer bedeckt.
PA2: Keine aktive Information.
PA1: Ja, oder wir fragen nach: Was ist denn nun mit der Frau? Das haben wir auch schon gemacht. Und wir haben eine Ärztin, die dann auch Rede und Antwort steht. Aber die Ärzte sind dann auch oft – ja mal gucken, und ja, mit dem Oberarzt Rücksprache halten, diese ganze Leier, die da halt hinter steckt. Das finde ich (seufzt tief) sehr sehr schwer, also wirklich, nicht nur ich, alle im Team. Ich meine, wenn ein Achtzigjähriger Krebs hat, dann sagt man: gut, der hat sein Leben gelebt, dann machen wir es ihm noch so schön wie möglich, und Bestrahlungen, gut, das kann er entscheiden, ob er das haben will oder nicht und dann wird er irgendwann entlassen. Ne. Aber ja
PA2: Also, wichtig finde ich trotzdem: Egal, ob die jünger oder älter sind, dass einfach nicht mit der Aussage rübergekommen wird /
PA1: / Ja, das ist der Punkt /
PA2: Das ist ein Tumor und wir können nichts mehr für Sie tun, wir können Ihnen nicht sagen, wie lange, das kann niemand, aber es ist irgendwo absehbar, es sind keine achtzig Jahre mehr. Ich finde selbst nem achtzigjährigen Menschen sollte gesagt werden / Kümmern Sie sich mal bitte um Sachen, die Sie sich noch vorgenommen haben. […]
PA1: / Aber es ist belastender, bei Jüngeren, wenn noch Kinder da sind, ne.
PA2: Ja, auf jeden Fall (erzählt von einem weiteren Fall aus der letzten Zeit): Das war das oberbelastendste für’s ganze Team, eine Sterbebegleitung zu machen, ohne dass offiziell (…), dass sie sterben werden. Weil, ne Sterbebegleitung ist, dass man zulässt, dass man auch Trauer zulässt, aber wenn ich jemandem nicht sagen darf, dass er sterben wird, dann darf ich ja keine Trauer zulassen, dann muss ich ja immer nur positiv, und nein, das wird ja wieder besser, und toll.
[….]
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2. Narrativ einer Schülerin aus dem Netzwerk Pflegeschulen Südostbayern:

Ich hatte in F. eine Patientin, Frau Sch., mit der ich mich sehr gut verstanden habe. Frau Sch. hatte Bronchial-Ca. Sie war eine wirklich nette Frau und ich hörte ihr oft und lange zu, da es ihr sehr schlecht ging! Sie bekam bei uns Chemo-, es ging ihr psychisch sehr schlecht, aber sie hatte eine super Bettnachbarin, die sie etwas auf andere Gedanken brachte! Ihre Bettnachbarin war eine wirklich nette ältere Dame, ich verstand mich auch mit ihr sehr gut! Eines Morgens als ich zum Frühdienst kam, war diese Dame gestorben! Sie hatte im Schlaf eine Lungenembolie bekommen, sie wurde gar nicht mehr wach! Wir, ich und ein Schüler aus dem II. Kurs, waren sehr bedrückt darüber, da wir uns gut mit dieser Patientin verstanden haben! Frau Sch. bekam das alles gar nicht mit, weil sie so tief geschlafen hatte! Die Schwester sagte zu uns, wir sollten Frau Sch. nichts davon sagen. Wir sollten sie also anlügen und ihr sagen, dass ihre Bettnachbarin jetzt auf Intensiv liegt! Ich fühlte mich so mies dabei, da Frau Sch. am Tag zuvor noch zu mir sagte, dass ich so nett und ehrlich sei! Ich musste sie also anlügen und das nur, weil die Schwestern das von mir verlangten! Ich persönlich hätte ihr lieber die Wahrheit gesagt! Vor einigen Tagen richtete mir eine Mitschülerin von mir, die im letzten Einsatz auf dieser Station war, einen schönen Gruß von Frau Sch. aus! Ich hatte sofort wieder ein schlechtes Gewissen, weil ich sie damals anlügen musste!

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Situations-merkmale

Zielgruppe

  • Menschen mit schwierigen sozialen Lebensbedingungen

Setting

  • Akutklinik
  • Palliativstation / Hospiz

Pflegeanlass

  • Kommunikations- / Informations-/ Beratungsbedarf
  • onkologische Erkrankung
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