Autonomie und Abhängigkeit …
... als Lebensthemen von Menschen in der stationären Langzeitversorgung biografisch rekonstruieren
Der Fall
Die Lernenden arbeiten mit selbst erhobenen Biografien von Bewohner*innen in der stationären Langzeitversorgung und/ oder mit Biografien, die aus entsprechender Fachliteratur gewonnen wurden (z. B. Schneider 2019).
Situations-merkmale
Zielgruppe
- ältere Menschen (ab 70 Jahre)
Setting
- stationäre Langzeitversorgung
Pflegeanlass
- Unterstützungsbedarf in der Lebensgestaltung / sozialen Teilhabe
Lernsequenzen
Sequenz 1 - Abhängigkeit erfahren - Autonomiebedürfnisse beschreiben und einordnen
1 Std. (davon Kommunikation: 1 Std.)
didaktisch inhaltliche Zuordnung
Die Lernenden...
- erfassen das Erleben von Autonomie in seinen Facetten, z. B. Selbstständigkeit, Selbstwirksamkeit, Selbstbestimmung und gedankliche Autonomie (z. B. Schütz et al. 2011),
- differenzieren Autonomie in die zentralen Aspekte der Entscheidungs- und Durchführungs- bzw. Handlungsautonomie (Wulff 2010),
- leiten ab, wie sich Einschränkungen und innere Dispositionen auf das Autonomieerleben auswirken können,
- unterscheiden verschiedene Formen, wie Autonomie im Kontext der Institution gelebt wird (Wulff 2010),
- machen sich Abhängigkeitserfahrungen und ihren persönlichen Umgang damit bewusst,
- verständigen sich über ihr persönliches Begriffsfeld von Freiheit und Selbstbestimmung sowie ihr Erleben bzw. ihre Akzeptanz, wenn ihre Autonomie eingeschränkt wird,
- nähern sich dem Spannungsfeld von Autonomie und Abhängigkeit an.
didaktisch methodischer Verlauf
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Die Lernenden... |
Methodik
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1 |
... führen sich in einer Partner*innenübung wechselseitig mit geschlossenen oder verbundenen Augen sowie verschlossenen Ohren (Ohrstöpsel/ Ohropax) für 3-5 Minuten durch den Raum und tauschen sich im Anschluss über ihre Erfahrungen aus |
Partner*innenübung |
2 |
... tragen ihre Erfahrungen im Plenum zusammen, fokussieren dabei Begriffe wie Autonomie, Abhängigkeit, Vertrauen und ihren jeweiligen individuellen Umgang damit |
Kreisgespräch im Plenum - zentrale Begriffe werden auf dem Boden ausgelegt |
3 |
... stellen hierzu persönliche lebensgeschichtliche Bezüge her und bringen diese auf freiwilliger Basis beispielhaft im Plenum ein <- Fragestellung z. B.: An welche Situationen in Ihrem Leben erinnert Sie diese Übung? - Inwiefern könnte Ihre Reaktion möglicherweise typisch für Ihren Umgang mit Abhängigkeit und/ oder mit Verantwortungsübernahme sein? |
Kreisgespräch, ggf. bringt die Lehrperson einen persönlichen Aspekt ein, um die Möglichkeit der Öffnung aufzuzeigen bzw. beachtet und anerkennt die Bedürfnisse der Lernenden in der Gruppe |
4 |
... wechseln die Perspektive auf den Umgang mit Autonomiebedürfnis und Abhängigkeitserleben von Menschen im Pflegeheim, kennen die Differenzierung zwischen Entscheidungs- und Durchführungsautonomie und die Gruppenbildung nach Wulff (2010) - sie unterscheidet zwischen: "(a) Bewohner*innen mit hoher Handlungsfähigkeit, denen im Zuge demenzieller
Erkrankungen selbstbestimmte Entscheidungen unter Umständen zunehmend schwerer fallen; (b) Bewohner*innen mit Bewegungseinschränkungen ohne Beeinträchtigung kognitiver
Fähigkeiten sowie (c) die Gruppe derjenigen Bewohner*innen, die sich selbstbestimmt für mehr Unterstützung entscheiden, obwohl sie noch in der Lage wären, ihren Alltag selbständig zu bestreiten" |
Lehrer*in-Schüler*innen-Gespräch |
5 |
... sammeln soziale, umweltbedingte und individuelle Faktoren, die das Autonomie-/ Abhängigkeitserleben von Menschen im Pflegeheim beeinflussen können - wissen, dass in dieser Lernsituation individuell-biografische Faktoren im Umgang mit Autonomie und Abhängigkeit bei Heimbewohner*innen ohne kognitive Einschränkungen im Zentrum stehen - Gruppe b) oder c) |
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Sequenz 2 - Lebensentwürfe rekonstruieren und deuten
2 Std. (davon Kommunikation: 1 Std.)
didaktisch inhaltliche Zuordnung
Die Lernenden...
- erarbeiten und diskutieren anthropologische Grundannahmen der Alternsforschung,
- vollziehen das Vorgehen in einem qualitativen Forschungsvorhaben nach,
- fassen selbst erhobene biografische Interviews zusammen bzw. rezipieren Biografien, die durch andere erhoben wurden,
- folgen einem methodisch strukturierten Verfahren zur individuellen Analyse von in biografischen Interviews gewonnenen Daten,
- identifizieren in den Biografien anderer stützende und begrenzende Lebensereignisse,
- identifizieren in den Biografien anderer Momente von Kontinuität sowie Brüche, Veränderungen und Gegensätze,
- leiten aus den identifizierten biografischen Momenten in fremden Biografien Deutungshypothesen zum Zusammenhang zwischen der Lebensgeschichte und der erlebten Gegenwart ab,
- reflektieren individuelle Widerspruchserfahrungen und Kontinuitäten in den analysierten Biografien von Bewohner*innen in Pflegeeinrichtungen im Spannungsfeld von Autonomie und Abhängigkeit.
didaktisch methodischer Verlauf
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Die Lernenden... |
Methodik
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1 |
... lernen die Forschungsfrage und das grundsätzliche methodische Vorgehen, einschl. Fragestellung und Sampling, in der Studie von Schneider (2019) kennen und erfahren / diskutieren eine kurze Einführung in die anthropologischen Vorannahmen der Studie |
Lehrer*inkurzvortrag (vgl. entsprechende Folien in der "Präsentation zur Erarbeitung und Ergebnisdiskussion" unter Dokumente) |
2 |
... stellen sich entweder gegenseitig ihre selbst erhobenen biografischen Interviews aus ihrem Praktikum in der stationären Langzeitpflege kurz umrissen vor und wählen eines exemplarisch aus, indem sich die Thematik des Umgangs mit dem Wunsch nach Selbstständigkeit / Abhängigkeitserleben gut abzeichnet und betrachten/ lesen / analysieren dieses vertieft (Schritt 4) |
Schritt 2-5: Kleingruppenarbeit |
3 |
... oder lesen die von den Kommentierungen und Deutungen bereinigten Zusammenfassungen ausgewählter Interviews aus der Studie von Schneider (2019) |
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4 |
... analysieren das ausgewählte Interview und entwickeln ein Strukturbild |
vereinfachtes Vorgehen, orientiert am Verfahren der biografischen Fallrekonstruktion (Schneider 2019, 151-155, als Arbeitsauftrag zusammengefasst in der "Präsentation zur Erarbeitung und Ergebnisdiskussion" unter Dokumente) |
5 |
… ergänzen, verändern ggf. das von ihnen entwickelte Strukturbild mit Hilfe des von Schneider 2019 publizierten bzw. vergleichen beide Ergebnisse und bereiten eine zusammenfassende Präsentation in Form einer Grafik vor |
Flipchart |
Sequenz 3 - Lebensgeschichten vergleichen - Schlussfolgerungen für Begegnungen im Pflegeheim ziehen
1 Std. (davon Kommunikation: - Std.)
didaktisch inhaltliche Zuordnung
Die Lernenden...
- gleichen eigene Erkenntnisse und Analysen mit denen von Mitlernenden und mit denen in wissenschaftlichen Forschungsprozessen gewonnenen Ergebnissen ab,
- nennen und erläutern die Notwendigkeit, bei der Deutung und Rekonstruktion von Biografien in methodisch nachvollziehbaren Schritten vorzugehen,
- anerkennen und begründen die Notwendigkeit zum individuellen Verstehen der biografischen Entwicklung in jedem Einzelfall.
didaktisch methodischer Verlauf
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Die Lernenden... |
Methodik
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1 |
... präsentieren ihre jeweiligen Fallanalysen und ihre am Einzelfall gewonnenen Erkenntnisse |
Präsentation der Flipcharts im Plenum |
2 |
... vergleichen die Einzelanalysen und formulieren thesenartig zusammenfassend ihre Erkenntnisse bezogen auf die in Sequenz 2, Schritt 1, formulierte Forschungsfrage, auch mit Rückbezug auf die dort diskutierten theoretischen Vorannahmen |
Lehrer*in-Schüler*innen-Gespräch bzw. moderierte Diskussion |
3 |
... vergleichen wiederum die gebildeten Thesen mit den Ergebnissen aus der Studie von Schneider (2019) |
Kurzpräsentation mit Diskussion (vgl. hierzu die Ergebniszusammenfassung in der "Präsentation zur Erarbeitung und Ergebnisdiskussion" unter Dokumente) |
Hinweise zur Unterrichts-vorbereitung
- Zu Sequenz 2, Schritt 3: Biografien als Bearbeitungen können aus den Fallbeispielen in Schneider 2019 generiert werden (dabei eignen sich v. a. Herr Hedrich, Frau Rost, Frau Beck, Frau Möller, Herr Feth, Frau Frank, 161-218). Die Textauszüge sollten jedoch um die von der Forscherin bereits vorgenommenen Deutungen auf ca. 1000 bis 1800 Wörter gekürzt werden.
Voraussetzungen, Weiterführungen, Alternativen
Voraussetzungen
- Die Lernenden sollten ein fundierteres Verständnis von Biografiearbeit entwickelt haben und nach der grundlegenden Einführung in –> Lern- und Lebensgeschichten sowohl mit biografisch-narrativen Interviews, wie z. B. in –> Henriette Schulz, als auch mit anderen etablierten Formen aus der stationären/ ambulanten Langzeitversorgung oder Teilzeitpflege gearbeitet haben, vgl. z. B. –> Biografiearbeit in der Langzeitpflege.
- Wenn im Rahmen des Unterrichts mit eigenen Fallbeispielen gearbeitet werden soll, sollten die Lernenden biografische Erzählungen bzw. Interviewtexte im Rahmen eines Praxisauftrags in der stationären Langzeitversorgung erhoben haben. Die dabei hinterlegte Fragestellung sollte auf Aspekte von Autonomie und Abhängigkeit abzielen (Initialfrage z. B.: Ich interessiere mich für Ihre Lebensgeschichte und wüsste gerne, wie ihr Leben verlaufen ist, bevor Sie hier in diese Pflegeeinrichtung eingezogen sind? Wie haben Sie den Umzug aus dem eigenen Zuhause in die Pflegeeinrichtung erlebt? Was hat Ihnen Ihre Selbständigkeit bedeutet und was hat sich daran durch den Umzug und in der Zeit, in der sie hier leben, verändert? – vgl. hierzu Schneider 2019, 141-145). Alternativ bzw. ergänzend kann mit für den Unterricht vorbereiteten Fallbeispielen gearbeitet werden (vgl. „Hinweise zur Unterrichtsvorbereitung“).
Weiterführungen
- Das in dieser Lernsituation erarbeitete Verständnis von Autonomie und Abhängigkeit wird in –> Frau Krabbe aufgenommen und im Hinblick auf das pflegeethische Spannungsfeld zwischen Autonomie, Paternalismus und Fürsorge angewendet und vertieft.
Anhang
Entwicklung
- Die Lernsituation wurde im Rahmen des Projekts "Nationales Mustercurriculum Kommunikative Kompetenz in der Pflege" (NaKomm) entwickelt.
Dokumente
Literatur
- Kruse, A.; Schmitt, E.; Ehret, S. (2014): Der Ältesten Rat. Generali Hochaltrigenstudie. Universität Heidelberg. Online: https://www.uni-heidelberg.de/md/presse/news2014/generali_hochaltrigenstudie.pdf (30. Jan. 2019).
- Schneider, H. (2019): Autonomie und Abhängigkeit in der Altenpflege. Wiesbaden: Springer. (Dissertation an den Hochschule Vallendar unter dem Titel „Perzeption und Apperzeption in der Dependenz zu Pflegender im Kontext von Autonomie und Identität“).
- Schütz, B.; Dräger, D.; Richter, S.; Kummer, K.; Kuhlmey, K.; Tesch-Römer, C. (2011): Autonomie trotz Multimorbidität im Alter – Der Berliner Forschungsverbund AMA. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 44 (2), 9 – 25. Online: https://link.springer.com/article/10.1007/s00391-011-0248-4 (05. Dez. 2018).
- Wulff, I.; Dräger, D.; Kuhlmey, A. (2011): Kann Autonomie gemessen werden? Untersuchung von Selbstbestimmung aus Betroffenenperspektive. In: PADUA, 5 (11), 12-19.
- Wulff, I. (2010): Autonomie im Pflegeheim – Konzeptionelle Überlegungen zu Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit anhand eines Modells. In: Pflege, 23 (4), 240-248.