Das kann ja Stunden dauern (mit Herrn Naifeh)*

Anamnesegespräch in der häuslichen Pflege mit einem alleinstehenden Mann, der über geringe Deutschkenntnisse verfügt

Gliederung

Der Fall

Gestern musste ich Herrn Naifeh, einen neuen Patienten, der von seiner Tochter angemeldet wurde, besuchen. Unsere PDLs hatten beide keine Zeit und ich sollte eigentlich die Erstanamnese bei ihm machen.

Herrn Naifeh lebt seit dem Tod seiner Frau vor einem Jahr allein in einer 2-Zimmer-Altbauwohnung. Bei unserem Treffen stand er schüchtern da, schaute mich irgendwie traurig an. Gesprochen hat er auch nicht viel. Das, was er sagte, konnte ich auch nicht wirklich verstehen, es schien arabisch zu sein. Eigentlich hatte sich seine Tochter einen kultursensiblen Pflegedienst gewünscht, weil sie Sorge hat, dass ihr Vater niemanden versteht, aber die haben alle keinen Platz mehr. Sie sagt, ihr Vater spricht nicht so gut deutsch.

Ich wusste überhaupt nicht, wie ich das Gespräch anfangen sollte, stand erstmal da und habe die ganze Zeit daran gedacht, wie viel ich noch auf meiner Tour erledigen muss. Irgendwie ging mir das alles viel zu langsam. Ich stand verunsichert im Flur und wusste nicht, wie ich Herrn Naifeh ansprechen sollte. Er ließ mich dann einfach stehen und ging, das linke Bein nach sich ziehend, vom Flur in Richtung Wohnzimmer. Die Anamnese hier, kann ja wohl Stunden dauern! Das schaffe ich heute nicht.

„Ok, Herr Naifeh, dann komme ich morgen zur gleichen Zeit wieder und möchte dann das Aufnahmegespräch mit Ihnen führen.“ Er nickte. Ich verabschiedete mich zaghaft und zog mich im Rückwärtsgang zurück, schloss die Tür und eilte die Treppe zum Auto hinunter. Bin mal gespannt, wie das dann morgen klappt, weil ich das auch nicht so oft mache.

Situations-merkmale

Zielgruppe

  • ältere Menschen (ab 70 Jahre)
  • Menschen mit unterschiedlichen kulturellen und sozialen Hintergründen

Setting

  • häusliche Pflege

Pflegeanlass

  • Unselbstständigkeit in der Selbstversorgung
  • Einschränkung in der Kommunikation
  • psychische Problemlage

Lernsequenzen

Sequenz 1 - Wenn mir das passieren würde

2 Std. (davon Kommunikation: - Std.)

didaktisch inhaltliche Zuordnung

Die Lernenden...

  • verständigen sich über ihre Erfahrungen in der häuslichen Pflege und berichten von pflegerischen Begegnungen mit pflegebedürftigen Menschen, die alleine leben und sozial isoliert sind sowie Menschen, mit denen die Verständigung aufgrund fehlender Sprachkenntnisse schwierig ist, - identifizieren Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur vorliegenden Fallsituation,
  • verständigen sich insbesondere über die möglicherweise vorhandenen Unsicherheitsgefühle angesichts der Notwendigkeit, allein in schwierigen pflegerischen Entscheidungen der häuslichen Pflege Entscheidungen treffen zu müssen,
  • tauschen sich über möglicherweise erlebte Hilflosigkeit in Situationen mit geringer Verständigungsbasis aus,
  • reflektieren den Widerspruch zwischen dem Wunsch, den Klienten möglichst bedarfsgerecht zu unterstützen und den knappen zeitlichen Ressourcen,
  • verständigen sich über Empfindungen und Reaktionen auf Stress und das Erleben „die Zeit im Nacken“ zu haben und sammeln Strategien, die sie hierzu inzwischen entwickelt haben.

didaktisch methodischer Verlauf

Die Lernenden... Methodik
1 ... hören die Schilderung der Situation und sind dabei aufgefordert, sich die Ereignisse aus der Perspektive der / des Erzählenden vorzustellen ggf. Tonaufnahme oder mündlicher Vortrag durch die Lehrperson
2 ... äußern spontan und möglichst ungefiltert, was ihnen durch den Kopf geht Lehrer*in-Schüler*innen-Gespräch, Äußerungen werden notiert
3 ... lesen die Szene nochmal und stellen sie im Kurs als Standbild nach Standbild bauen - Lehrer*in fungiert als Spielleiter*in und regt dazu an, unterschiedliche Vorstellungsbilder zu inszenieren ("in Bildern zu diskutieren") und sich erst abschließend auf eines zu verständigen
4 ... treten hinter die beiden Figuren und sagen ihnen von außen in einem Stimmentheater die zuvor gesammelten Sätze und Zitate ein (Sätze werden mit unterschiedlichen Betonungen/ Intonierungen mehrfach wiederholt) Stimme(n) geben - Lehrer*in fungiert als Spielleiter*in und ermutigt, "im Spiel" auch kontroverse und mit den eigenen Normen und Werten nicht vereinbare Gedanken und Äußerungen zunächst zuzulassen
5 ... geben aus unterschiedlichen Perspektiven Rückmeldungen: (1) die beiden Personen aus dem Standbild aus der Perspektive der Figuren, (2) die "Einsager*innen" über die Gefühle, die der von ihnen gesprochene Satz und der Sprechgestus in ihnen auslöst, (3) die Beobachter aus der Außenwahrnehmung Moderationskarten, - Emotionen werden notiert - in Clustern geordnet
6 ... sammeln in einem reflexiven Gespräch - gleichsam aus einer übergeordneten, am Erkenntnisgewinn interessierten Perspektive - zu den Sätzen, den erfahrenen Emotionen und der geschilderten Fallsituation Lernfragen, die sie im Zuge der Bearbeitung des Falls klären möchten Kleingruppenarbeit (6 Neigungsgruppen oder Zufallsteams, sollten für die Dauer der Lernsituation bestehen bleiben) - Lernfragen auf Karten notieren
7 ... ordnen ihre Lernfragen den vorgeschlagenen Lernsequenzen zu Plenumsdiskussion um die geplante Übersicht der Lernsituation an einer Metaplanwand

Sequenz 2 - Migration und transkategoriale Pflege – Eine professionelle Herausforderung

4 Std. (davon Kommunikation: - Std.)

didaktisch inhaltliche Zuordnung

Die Lernenden...

  • reflektieren kritisch unterschiedliche Auffassungen des Integrationsbegriffs ausgehend unterschiedlicher unterschiedlichen Positionen,
  • differenzieren und beschreiben die Begriffe Exklusion, Separation, Integration und Inklusion und leiten mögliche Ziele für die jeweiligen Menschen ab,
  • verständigen sich über mögliche Bedürfnisse, Wünsche und Interesse von zugewanderten Menschen hinsichtlich Integration,
  • reflektieren institutionell geprägte Widersprüche zwischen Erwartungen an die einzelnen Personen hinsichtlich des Integrationsprozesses und deren Abhängigkeit von verschiedensten Institutionen und Akteur*innen,
  • verstehen die Weiterentwicklung von der transkulturellen Kompetenz zur transkategorialen Kompetenz,
  • erarbeiten Möglichkeiten der Integration und Teilhabe für Menschen mit Migrationserfahrungen im Alter vor dem Hintergrund der transkategorialen Pflege.

didaktisch methodischer Verlauf

Die Lernenden... Methodik
1 ... tauschen sich über erste Vorstellungen und persönliche Erfahrungen mit dem Begriff „Integration“ aus Kooperative Methode „Finde jemanden, der dir sagen kann… Was ist Integration?“, anschließend eigene Definition schriftlich festhalten, in Partner*innenarbeit vergleichen und im Plenum einzelne Definitionen vorstellen (ohne Bewertung)
2 ... setzen sich mit den Konzepten Exklusion, Separation, Integration, Inklusion auseinander und diskutieren Unterschiede sowie deren Bedeutung für pflegerisches Handel Lehrvortrag mit Postermaterial (z. B. von Aktion Mensch), anschließende Gruppenarbeit zur Bedeutung in der Pflegepraxis
3 ... reflektieren Bedürfnisse und Wünsche von zugewanderten Menschen im Kontext von Integration und gelingender Teilhabe Einzel-/Partnerarbeit, Ergebnisse im Plenum gesammelt und diskutien
4 ... analysieren institutionelle und gesellschaftliche Widersprüche, die Integration erschweren können, z. B. Abhängigkeit von Behörden trotz individueller Integrationsbemühungen Gruppenarbeit, ggf. Diskussion konkreter Fallbeispiele oder eigener Beobachtungen aus der Praxis
5 ... setzen sich mit dem Konzept der transkategorialen Kompetenz auseinander und verstehen dessen Weiterentwicklung aus dem Konzept der transkulturellen Kompetenz Input durch Lehrer*in (Vortrag), Visualisierung der drei Pfeiler (Selbstreflexivität, narrative Empathie, Erfahrung/Wissen) (siehe Dokumente)
6 ... analysieren die Abbildung zu den „Drei Pfeilern der transkategorialen Kompetenz“ Gemeinsame Interpretation der Grafik, Reflexion im Plenum (siehe Dokumente)
7 ... üben Selbstreflexion anhand vorgegebener Fragen oder Impulse Einzelarbeit, anschließend freiwillige Ausschnitte im Gruppengespräch teilen
8 ... erarbeiten Möglichkeiten der Integration und Teilhabe älterer Menschen mit Migrationsgeschichte im Pflegealltag unter Berücksichtigung transkategorialer Aspekte Gruppenarbeit, ggf. Präsentation der Ergebnisse auf Plakaten oder in kurzen Statement

Sequenz 3a - Anamnesegespräch und Verständigung in der ambulanten Pflege – Anamnesegespräch mit Herrn Naifeh (6h)

6 Std. (davon Kommunikation: 6 Std.)

didaktisch inhaltliche Zuordnung

Die Lernenden...

  • erarbeiten die Besonderheiten von Anamnesegesprächen in der häuslichen Pflege (Ziele, Inhalte, Vorgehen, Formblätter),
  • erläutern Prinzipien der Gesprächsführung mit Menschen vor dem Hintergrund einer transkategorialen Pflege - Wahrnehmung von und Umgang mit unterschiedlichen Sichtweisen,
  • informieren sich zu kommunikativen Möglichkeiten der Überwindung von ausgeprägten Sprachbarrieren.

didaktisch methodischer Verlauf

Die Lernenden... Methodik
1 ... erarbeiten sich vor dem Hintergrund ihrer Kenntnisse und Erfahrungen zur Struktur und Finanzierung der häuslichen Pflege die Ziele für ein Anamnesegespräch in diesem Setting Kleingruppenarbeit
2 ... formulieren die zu erhebenden Inhalte und entsprechende Fragen Kleingruppenarbeit
3 ... vergleichen ihre Ergebnisse mit Beispielen von Anamnesebögen aus verschiedenen Pflegeeinrichtungen, prüfen diese kritisch in Bezug auf die zuvor überlegten Zielsetzungen und ergänzen ihren Fragenkatalog, wenn erforderlich Lehrer*in-Schüler*innen-Gespräch
4 … formulieren vor dem Hintergrund ihres eigenen Vorverständnisses erste Ziele für eine personenzentrierte Kommunikation mit Herrn Naifeh bzw. leiten aus dem vorangegangenen Unterricht Lehrer*in-Schüler*innen-Gespräch
5 ... reaktivieren ihr Vorwissen hinsichtlich möglicher Angebote und Hilfsinstrumente für die sprachliche Verständigung mit Menschen mit eingeschränkten Deutschkenntnissen Lehrer*invortrag, ggf. Expert*innenvortrag aus einem Pflegedienst
6 … rekonstruieren ihre Kenntnisse und ihre Erfahrungen in der Gestaltung der pflegerischen Interaktion mit Menschen, die schwermütig sind, um diesen Aspekt in die Vorbereitung des Anamnesegesprächs zu integrieren Lehrer*in-Schüler*innen-Gespräch oder ergänzender Auftrag in der anschließenden Kleingruppenarbeit
7 ... …erarbeiten sich das RESPECT-Modell (Domenig 2021, S. 687) als mögliche Gesprächsstruktur, um ein respektvolles Gespräch zu gestalten ergänzender Auftrag in der anschließenden Kleingruppenarbeit (siehe Dokumente)
8 ... entwickeln ein Konzept für das Vorgehen im Anamnesegespräch mit Herrn Naifeh für den Folgetag nach der ersten Begegnung Fortsetzung der Kleingruppenarbeit
9 ... entwickeln ein Konzept für das Vorgehen im Anamnesegespräch mit Herrn Naifeh für den Folgetag nach der ersten Begegnung unter Berücksichtigung von Aspekten der transkategorialen Anamnese (Domenig 2021, S. 690 f.) Kleingruppenarbeit (siehe Dokumente)

Sequenz 3b - exemplarische Durchführung des Anamnesegesprächs (optional)

2 Std. (davon Kommunikation: 2 Std.)

didaktisch inhaltliche Zuordnung

Die Lernenden...

  • wenden die zuvor entwickelten Ansatzpunkte für ein Anamnesegespräch an und reflektieren die Anwendung unter Bezugnahme auf eine vorgegebene Struktur,
  • entwickeln Ansatzpunkte für ein gelingendes Anamnesegespräch in der geschilderten Situation und beachten hierfür die Gestaltung der Rahmenbedingungen, die Entwicklung einer geeigneten inneren Haltung sowie mögliche Kommunikationsangebote, die auf Verständigung zielen,
  • reflektieren den Widerspruch zwischen dem Anspruch, dem anderen vorurteilsfrei und offen zu begegnen, und dem inneren Erleben von Abwehr und Distanzierung.

didaktisch methodischer Verlauf

Die Lernenden... Methodik
1 ... führen wechselseitig Anamnesegespräche zu fiktiven Lebensgeschichten/ Rolleneinfühlungen von Herrn Naifeh und reflektieren ihre Gespräche jeweils im Anschluss Schritt 1-4: Rollenspiel mit anschließender Reflexion -> Aufteilung der Klasse in zwei Großgruppen aus jeweils drei Arbeitsgruppen, die Gruppen arbeiten selbstorganisiert bzw. von jeweils einer Lehrperson begleitet (ggf. Teamteaching), bei ausreichenden Räumlichkeiten besteht auch die Möglichkeit der Triadenarbeit
2 ... (eine Lernende/ ein Lernender), der/ dem die Biografie nicht bekannt ist, führt das Anamnesegespräch anhand des zuvor in Sequenz 3 entwickelten Konzepts
3 ... reflektieren das durchgeführte Gespräch jeweils im Anschluss aus den unterschiedlichen Perspektiven anhand einer vorgegebenen Struktur (Pflegende - Herr Naifeh - Beobachter*in): Wie ist der Kontakt gelungen? Wie ist Verständigung erfolgt? Wie wurden Inhalte der fiktiven Biografie deutlich? Wie sind die Informationen für die Planung des Pflegeprozesses nutzbar? Wie hoch ist der Realitätsgrad der fiktiven Biografie? Reflektion des Rollenspiels anhand einer vorgegebenen Struktur
4 ... verständigen sich nach der Durchführung aller drei Durchläufe darüber, welche der erarbeiteten Strategien sich in der Fallsituation als hilfreich erwiesen haben und dokumentieren diese Erkenntnisse Gruppenarbeit

Hinweise zur Unterrichts-vorbereitung

Voraussetzungen, Weiterführungen, Alternativen

Voraussetzungen


Parallelen

Anhang

Entwicklung


Dokumente

Literatur

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