Bei uns wird jeden zweiten Tag geduscht

Erfahrungen mit Gewaltsituationen in der Institution reflektieren

Gliederung

Der Fall

„Bei uns wird jeden zweiten Tag geduscht“

Ich war gerade am Anfang des 3. Ausbildungsjahres, als ich meinen Außeneinsatz in der Psychiatrie hatte. Ich hatte Frühdienst und eine Schwester bat mich, die Patientin X zu duschen. Die Patientin X war ca. 65 Jahre alt und wegen ihrer fortgeschrittenen Demenz in der Klinik. Ich sagte ihr, ich würde sie gerne duschen. Sie meinte zu mir, sie hätte keine Zeit zu duschen, sie würde sich gleich mit einer Freundin zum Frühstück treffen. Ich fragte sie, ob ich ihr dann noch beim Zähneputzen helfen solle, aber auch dafür hatte sie keine Zeit. Ich ging wieder zurück zur Schwester und erzählte ihr das. Sie meinte bloß, dass ihr das egal sei und ich solle sie jetzt gefälligst duschen, was ich denn bisher in meiner Ausbildung gelernt hätte. Ich versuchte noch mal, die Patientin doch zum Duschen, oder wenigstens Teilwaschen zu überreden, aber sie wurde immer aggressiver. Sie kennt mich nicht. Sie hat keine Zeit. Sie braucht keine Hilfe. Ich würde ihr was Schlechtes wollen.

Ich ging wieder zurück zur Schwester, um ihr zu sagen, dass die Patientin nicht duschen will und dass ich es morgen noch mal probieren werde. Darauf meinte die Schwester nur, dass wir sie halt dann zusammen duschen. Sie ging zur Patientin, packte sie am Arm und sagte ihr, wir würden jetzt duschen gehen. Ich musste noch einen Pfleger dazu holen und zu zweit zogen sie ihr dann ihr Kleid und die Socken aus. Sie stellten sie mit Unterwäsche (die sie ihr nicht ausziehen konnten) in die Dusche. Der Pfleger hielt sie fest und die Schwester duschte sie ab. Da die Patientin große Angst hatte und versuchte sich zu wehren und um sich haute, wurden ihre Haare nass und mussten dann „zur Strafe“ auch noch gewaschen werden. Die Frau schrie, schlug zu, zwickte und weinte zum Schluss nur noch, aber das alles ließ die Schwester und den Pfleger ziemlich kalt. „Bei uns wird jeden zweiten Tag geduscht“, wurde mir erklärt. Ich war total geschockt. Ich hätte dem Pfleger beim Festhalten helfen sollen und konnte nicht. Mir tat die Frau einfach nur Leid. Als sie sich danach resignierend abtrocknen ließ, ließen sie mich mit der Patientin wieder allein und meinten nur, dass ich das jetzt wohl allein schaffen würde. Während ich sie eincremte und dann anzog, weinte Frau X noch immer. Ich konnte nichts zu ihr sagen, weil ich selbst immer noch so geschockt war. Ich kämmte ihr noch die Haare, föhnte sie, machte eine Zopf und brachte sie zum Frühstück.

Ich versuchte noch mal mit der Schwester zu reden, ihr zu sagen, dass ich das so nicht richtig finde. Aber sie meinte dann eben nur noch mal: „Bei uns wir jeden zweiten Tag geduscht.“

Situations-merkmale

Zielgruppe

  • Menschen im Erwerbsalter (30 – 69 Jahre)
  • Partnerschaft, soziale Bezugspersonen, Familien

Setting

  • Einrichtungen der psychiatrischen Versorgung

Pflegeanlass

  • Herausfordernde Verhaltensweisen, psychische/soziale Problemlagen
  • psychische Problemlage

Lernsequenzen

Sequenz 1 - Vorstellen des Narrativs

2 Std. (davon Kommunikation: Std.)

didaktisch inhaltliche Zuordnung

Die Lernenden...

  • identifizieren die zentralen Probleme im Narrativ,
  • nennen ihre Lernfragen und Lernziele,
  • verständigen sich über ihre eigenen Erfahrungen hinsichtlich Gewalt in der Pflege.

didaktisch methodischer Verlauf

Die Lernenden... Methodik
1 ... lesen das Narrativ und berichten von Situationen, die sie ggf. selbst im Zusammenhang mit Gewalt erlebt haben Einzelarbeit und Klassengespräch
2 ... erarbeiten Übereinstimmungen und Differenzen zwischen den eigenen Erfahrungen und der Fallsituation Lehrer*in-Schüler*innen-Gespräch
3 ... identifizieren die zentralen Probleme des Narratives und halten diese auf einer Wandzeitung fest Lehrer*in-Schüler*innen-Gespräch
4 ... lernen die Struktur der Lernsituation kennen Lehrer*invortrag
5 ... formulieren Lernfragen im Hinblick auf das Narrativ, ihren Erfahrungen und die geplante Lernsituation Lehrer*in-Schüler*innen-Gespräch

Sequenz 2 - Was ist die Wirklichkeit? - Die Realität von Demenzkranken

2 Std. (davon Kommunikation: 0 Std.)

didaktisch inhaltliche Zuordnung

Die Lernenden...

  • verständigen sich über das Erleben von Entmündigung, Ohnmacht, Hilflosigkeit und Resignation,
  • verbalisieren das Gefühl, die Würde zu verlieren und den Wunsch, die Würde bewahren zu wollen,
  • verständigen sich über das Erleben von Angst gegenüber zwingender Gewalt,
  • verständigen sich über die Entwicklung von Aggression als Abwehr von Übergriffen.

didaktisch methodischer Verlauf

Die Lernenden... Methodik
1 ... sammeln Wörter, welche die Gefühlswelt der Patientin in der Situation beschreiben Arbeit mit Film-/ Textmaterial, das die Sichtweise der Demenzerkrankten verdeutlicht
2 ... beschreiben ihre Erfahrungen mit Patient*innen mit Demenz in verschiedenen Stadien und beschreiben ebenfalls deren Gefühlswelt Partner*innenarbeit
3 ... erarbeiten sich durch Film- und Textmaterial zunehmend die Erfahrungwelt von Menschen mit Demenz und finden mögliche Ursachen für die bereits beschriebene Gefühlswelt Partner*innenarbeit
4 ... finden Erklärungsansätze für ängstliches Verhalten bzw. Angst, aggressivem Verhalten von Menschen Partner*innenarbeit ggf. Recherche
5 ... stellen ihre Erklärungsansätze vor und lernen ggf. weitere mögliche Erklärungsansätze für Aggression als Abwehr von Übergriffen kennen Kurzpräsentation und Lehrer*invortrag

Sequenz 3 - Interaktion mit dementen Patient*innen

7 Std. (davon Kommunikation: 4 Std.)

didaktisch inhaltliche Zuordnung

Die Lernenden...

  • erklären das Krankheitsbild Demenz, Stadien - Probleme und Ressourcen in Bezug auf die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und die Fähigkeit, Körperpflege selbständig durchzuführen,
  • nennen Konzepte zur Kommunikation mit demenzerkrankten Patient*innen,
  • nennen Handlunsgempfehlungen zur Anleitung von dementen Patient*innen bei der Körperpflege (zum Duschen),
  • nennen Möglichkeiten der Information von Patient*innen bzgl. Körperpflege unter Berücksichtigung der Demenz,
  • verständigen sich über das Bedürfnis "nein zu sagen" und den eigenen Willen durchzusetzen,
  • reflektieren den Widerspruch zwischen dem Anspruch für die Rechte der Patientin eintreten zu wollen vs. Erleben des Gefühls der Ohnmacht,
  • reflektieren den Konflikt zwischen der zwingenden Macht der Pflegenden und der verweigernden Macht der Patientin.

didaktisch methodischer Verlauf

Die Lernenden... Methodik
1 ... aktivieren ihr Vorwissen zu den Themen Krankheitsbild Demenz, Stadien - Probleme und Ressourcen in Bezug auf die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und die Fähigkeit, Körperpflege selbständig durchzuführen Partner*innenarbeit, ggf. Recherche
2 ... schaffen dabei einen Bezug zu ihren bereits erlebten Erfahrungen in der Praxis Partner*innenarbeit, Austausch im Klassengespräch
3 ... aktivieren anschließend ihr Konzept zur Kommunikation mit demenzerkrankten Patient*innen Partner*innenarbeit, Austausch im Klassengespräch
4 ... aktivieren ihr Vorwissen zur Anleitung und Information von Menschen bei der Körperpflege und leiten anschließend Handlungsempfehlungen für die Anleitung von dementen Patient*innen bei der Körperpflege (zum Duschen) ab Partner*innenarbeit, ggf. Recherche, Austausch im Klassengespräch
5 ... üben im Rollenspiel die erste Teilsituation (erste Begegnung mit der Patientin) und wenden dabei unterschiedliche Handlungsempfehlungen aus dem vorgegangenen Schritt an; halten ihre Erfahrungen fest Kleingruppen, rotierendes Rollenspiel (Beobachter*in, Patientin und Lernende*r)
6 ... diskutieren im Anschluss die beiden Pole der zwingenden Macht der Pflegenden und der verweigernden Macht der Patientin und die möglichen Handlungsalternativen; positionieren sich und können ihre Entscheidung(en) begründen gelenkte Diskussion mit Positionierung der Lernenden

Sequenz 4 - Rechtliche und ethische Aspekte der Selbstbestimmung von Patient*innen

6 Std. (davon Kommunikation: Std.)

didaktisch inhaltliche Zuordnung

Die Lernenden...

  • nennen allgemeine Entstehungsbedingungen für Gewalt in der Pflege,
  • nennen rechtliche Grundlagen wie das Selbstbestimmungsrecht/ Grundgesetz/ Menschenrechte,
  • nennen rechtliche Grundlagen in Bezug auf Gewaltanwendung in der Pflege: Wann beginnt Körperverletzung? Wann beginnt die Verletzung der Persönlichkeitsrechte?
  • verständigen sich über die Entstehung von Gewalt gegenüber Patient*innen,
  • reflektieren die/ ihre Fürsorgepflicht gegenüber Anvertrauten,
  • reflektieren den Widerspruch zwischen Patient*innenwillen akzeptieren wollen (selbständig entscheiden wollen) vs. Pflichtgefühl, Auftragserfüllung,
  • reflektieren den Widerspruch zwischen Selbstbestimmung vs. Abhängigkeit.

didaktisch methodischer Verlauf

Die Lernenden... Methodik
1 ... lernen Entstehungsbedingungen für und Formen der Gewalt in der Pflege Lehrer*invortrag
2 ... lernen die rechtliche Grundlage in Bezug auf Gewaltanwendung in der Pflege kennen (Wann beginnt Körperverletzung? Wann beginnt die Verletzung der Persönlichkeitsrechte?) und reaktivieren dabei ihr Wissen zum Selbstbestimmungsrecht, dem Grundgesetz und den Menschenrechten Lehrer*invortrag, Recherchearbeit, Austausch im Plenum
3 ... planen eine Diskussion durch Sammeln von Argumenten für und gegen die Haltungen Patient*innenwillen akzeptieren vs. Pflichtgefühl, Auftragserfüllung Partner*innenarbeit, Pro - Contra Diskussion
4 ... positionieren sich im Anschluss zwischen den beiden Polen und versuchen, eine begründete Entscheidung dafür zu finden Klassengespräch, dabei soll/ muss es sich nicht um eine statische Positionierung handeln, diese kann/ sollte auch fließend sei

Sequenz 5 - Konfliktmanagement - Umgang mit Macht und Hierarchie

6 Std. (davon Kommunikation: 4 (incl. interprofessionelle Kommunikation) Std.)

didaktisch inhaltliche Zuordnung

Die Lernenden...

  • nennen und erklären Kommunikationsregeln - eigene Bedürfnisse gegenüber Patient*innen, Kolleg*innen und Vorgesetzten sinnvoll vertreten,
  • identifizieren Regeln für Konfliktmanagement mit Vorgesetzten,
  • nennen strukturelle Bedingungen für ein erfolgreiches Konfliktmanagement - Supervision,
  • identifizieren mögliche Verhaltensmöglichkeiten bei der Beobachtung von Gewaltsituationen,
  • verständigen sich über die Hilflosigkeit gegenüber den unterschiedlichen Anforderungen (Wünsche der Patient*innen, Anordnung der Vorgesetzten, eigene Ansprüche) - Klärung des Gefühlswirrwars,
  • verständigen sich über das Gefühl der Machtlosigkeit in der Schüler*innenrolle, der Überforderung - und seine Entstehung und des Mitleids,
  • entwickeln Argumente, um ihre Position im Team vertreten zu können.

didaktisch methodischer Verlauf

Die Lernenden... Methodik
1 ... versuchen, die Perspektive der Schülerin einzunehmen und beschreiben, wie sie sich in der Situation mit den Vorgesetzten gefühlt hätten Partner*innenarbeit
2 ... stellen die Situation als Standbild nach, um sie besser zu veranschaulichen und sich auch dadurch besser in die Situation einfühlen zu können (Situation, in der die Pflegekräfte die Patientin in die Dusche bringen, als Standbild nachstellen) Standbild, Nachstellung der Situation, Kursgespräch
3 ... leiten erste Ideen für Handlungsmöglichkeiten für die Beobachtung von Gewaltsituationen ab, diskutieren diese und halten diese gemeinsam fest Kursgespräch
4 ... lernen Kommunikationsregeln, um ihre Bedürfnisse gegenüber Patient*innen, Kolleg*innen und Vorgesetzten sinnvoll zu vertreten, und Regeln für Konfliktmanagement mit Vorgesetzten kennen; finden Handlungsalternativen für die konkrete Situation Lehrer*invortrag, Partner*innenarbeit, Austausch im Plenum
5 ... wenden die erlernten Regeln auf die Situation in einem Rollenspiel an und reflektieren die Anwendung von Regeln für die konkrete Situation Rollenspiel, Reflexion im Plenum
6 ... lernen strukturelle Bedingungen für ein erfolgreiches Konfliktmanagement - Supervision kennen Lehrer*inkurzvortrag
7 ... formulieren ihren Standpunkt, um ihre Position hinsichtlich des Duschens vertreten und eine gemeinsame Lösung im Team aushandeln zu können Partner*innenarbeit, Präsentation im Plenum

Sequenz 6 - Reflexion der Situation vor dem Hintergrund des Gelernten - Neuorientierung für zukünftige vergleichbare Situationen

1 Std. (davon Kommunikation: 1 Std.)

didaktisch inhaltliche Zuordnung

Die Lernenden...

  • nennen ihre zu Beginn gestellten Lernfragen und gleichen diese individuell mit ihrem Gelernten ab.

didaktisch methodischer Verlauf

Die Lernenden... Methodik
1 ... vergegenwärtigen sich anhand des Lernsituationsschemas den Unterrichtsverlauf Lehrer*in-Schüler*innen-Gespräch
2 ... überlegen, was sie für sich gelernt haben und beziehen dabei die Lernfragen und die zentralen Probleme der Einstiegssequenz ein Einzelarbeit

Voraussetzungen, Weiterführungen, Alternativen

Voraussetzungen


Weiterführungen

Anhang

Entwicklung

Literatur

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