Setz dich mal an sein Bett

Auftrag, bei einem gleichaltrigen, sterbenskranken Menschen unvorbereitet Begleitung und Pflegeaufgaben zu übernehmen

Gliederung

Der Fall

Teil 1:

In einer kollegialen Beratungsrunde nach dem Praxiseinsatz berichtet Janina, 18 Jahre:
„Ich hatte im Februar einen Einsatz im Klinikum auf der Chirurgie 3 und war gerade eine Woche dabei.
In Zimmer 14 lag Vincent, der schon längere Zeit dort war, und ich wusste schon von den anderen, dass er Hodenkrebs hat. Ich war in der ersten Woche auch schon mal beim Bettenmachen mit ihm allein in seinem Zimmer und da hat er mir erzählt, dass er gerade 18 geworden ist, genau wie ich. Da bin ich ziemlich erschrocken. Ansonsten war ich, wenn überhaupt, in der ersten Woche nur ganz selten bei ihm im Zimmer – Teller abräumen oder so.
In der zweiten Woche hatte ich Spätdienst und gleich am Montagnachmittag, es war relativ ruhig, hat mich Ramona, die Stationsleiterin, zu sich gerufen: „Janina,“ hat sie gesagt, „dem Vincent geht es ziemlich schlecht. Er muss vielleicht heute noch operiert werden, es kann aber auch sein, dass er bald stirbt. Seine Eltern wissen schon Bescheid und sind auf dem Weg hierher. Kannst du solange in sein Zimmer gehen, dich an sein Bett setzen und darauf achten, dass alles in Ordnung ist und die Infusion glatt läuft? Ist vielleicht schön für ihn, wenn er eine Gleichaltrige zum Reden hat. Wenn was ist, klingelst du einfach.“

Teil 2:

Auf Nachfragen könnte Janina ggf. ergänzen:
„Ich habe heftig geschluckt, wollte mich erst weigern, bin dann aber doch in sein Zimmer gegangen.“

„Eigentlich ist alles ganz gut gelaufen. Ich war gar nicht lange im Zimmer und Vincent war ziemlich benommen und hat gar nichts gesagt. Und kurz darauf kam Ramona mit den Eltern und dann konnte ich auch wieder gehen.“

„Am nächsten Morgen war Vincent nicht mehr auf der Station. Ich habe mich nicht getraut, zu fragen, was aus ihm geworden ist. Und dann war auch gleich wieder so viel los.“

„Das ist mir ziemlich lange nachgegangen, vor allem abends vorm Einschlafen. Ich mache mir immer wieder Gedanken, was alles hätte passieren können und ob ich da wirklich mitspielen musste oder ob ich nicht besser „Nein!“ gesagt hätte. Schließlich bin ich ja erst im ersten Ausbildungsjahr.“

„Ich hatte Angst und hab mich ziemlich allein gelassen gefühlt.“

Situations-merkmale

Zielgruppe

  • Jugendliche (10 – 18 Jahre)

Setting

  • Akutklinik

Pflegeanlass

  • Einschränkungen in der Mobilität
  • onkologische Erkrankung

Lernsequenzen

Sequenz 1 - Den Fall erschließen - Schlüsselfragen formulieren

1 Std. (davon Kommunikation: 1 Std.)

didaktisch inhaltliche Zuordnung

Die Lernenden...

  • vollziehen die Fallsituation einer fiktiven Mitschülerin lesend und durch Nachfragen nach,
  • formulieren eine Fallskizze,
  • entwickeln mögliche Schlüsselfragen für Janina,
  • verständigen sich über Schlüsselfragen zum Fallbeispiel und formulieren eigene Lerninteressen.

didaktisch methodischer Verlauf

Die Lernenden... Methodik
1 ... lesen den Fall (Teil 1) und formulieren die Fragen, die sie Janina in einer Kollegialen Beratung stellen würden und nehmen hierzu mögliche ergänzende Informationen auf Lehrer*in-Schüler*innen-Gespräch - als Fall wird zunächst nur Teil 1 gelesen - Lehrer*in beantwortet die Nachfragen für Janina (s. hierzu mögliche Ergänzungen in Teil 2)
2 ... formulieren eine Fallskizze und entwickeln mögliche Schlüsselfragen für Janina Lehrer*in-Schüler*innen-Gespräch - evtl. Kleingruppenarbeit - (für die Fallskizze vgl. in der Anlage zwei Formen des Arbeitsblattes sowie ein Muster)
3 ... ordnen die Schlüsselfragen den geplanten Lernsequenzen zu - ggf. Reihenfolge aus der Priorisierung ableiten (bei identischer Lehrperson) Lehrer*in-Schüler*innen-Gespräch

Sequenz 2 - Schlüsselfrage 1 - Wie gehe ich, Janina, mit meinen Gefühlen um?

5 Std. (davon Kommunikation: 3 Std.)

didaktisch inhaltliche Zuordnung

Die Lernenden...

  • erklären die Kollegiale Beratung als Unterstützungsmöglichkeit in belastenden, beruflichen Situationen,
  • nennen institutionelle Angebote zur Unterstützung von Pflegenden in Arbeitssituationen, die als emotional belastend erlebt werden (fakultativ),
  • verständigen sich über eigene Gedanken und Ängste in der Begegnung mit dem Lebensende, Sterben und Tod - insbesondere wenn es junge Menschen betrifft,
  • tauschen sich über persönliche Erlebnisse in der Begegnung mit schwerkranken, sterbenden Menschen und deren mögliche Auswirkungen auf das Verständnis der Berufsrolle aus,
  • verständigen sich über die individuelle Wahrnehmung und Einordnung von Gefühlsreaktionen auf die in der Situation gestellten Anforderungen,
  • reflektieren den Widerspruch zwischen der Norm bzw. dem Anspruch, professionell Unterstützung leisten zu wollen und dem Überschwemmt werden von eigenen Emotionen.

didaktisch methodischer Verlauf

Die Lernenden... Methodik
1 ... tragen unterschiedliche Reflexionsmethoden der Kollegialen Beratung in der Pflege an Janinas Anliegen heran (Resonanzrunde -> Was löst Janinas Fall in mir aus? Sharing -> An welche eigenen Erfahrungen erinnert mich der Fall? Kurze Kommentare -> Was ist mir an Janinas Fallerzählung aufgefallen? Brainstorming -> Janina liegt im Bett und grübelt - Was könnte sie in dieser Situation tun?) 4-Ecken-Gespräch/ Schreibgespräch
2 ... lesen die gesammelten "Beratungsinterventionen" und bewerten, welche Reaktionen die Rückmeldungen bei Janina auslösen könnten (++/ +-/ --) 4-Ecken-Gespräch/ Schreibgespräch
3 ... analysieren mit Hilfe häufiger ++ bzw. - -Bewertungen, in welchem Spannungsfeld Janina sich befindet (welche Normen/ Ansprüche und welche Gefühle an ihr "zerren" und wodurch das Gedankenkreisen ausgelöst werden könnte?) Plenumsdiskussion/ Kreisgespräch
4 ... recherchieren/ tragen zusammen/ erfahren, welche Hilfsangebote Janina neben kollegialer Beratung evtl. in Anspruch nehmen könnte Rechercheauftrag zu Beratungsangeboten für Pflegende vor Ort bzw. Kurzvortrag durch Lehrer*in bzw. Expertin/ Experten der Einrichtung
5 ... leiten abschließend "gute Ratschläge" für Janina für ihre Schlüsselfrage 1 ab Kreisgespräch

Sequenz 3 - Schlüsselfrage 2 und 3 - Was muss ich über Vincents Erkrankung wissen und wie kann ich ihm und seinen Eltern gut begegnen?

5 Std. (davon Kommunikation: 2 Std.)

didaktisch inhaltliche Zuordnung

Die Lernenden...

  • nennen Erkenntnisse der Pflege- und Sozialwissenschaften zu den Bedürfnissen sterbender Menschen (physiologisch / psychologisch/ sozial),
  • erläutern Aufgaben der pflegerischen Interaktion in der letzten Lebensphase, z. B. angstlösende Gesprächsangebote oder Beratung zu pflegerischen Interventionen,
  • ergänzen ihre "Skill-Koffer" mit Formulierungen, die sie in dieser Situation als geeignet für den/ die anderen und sich selbst empfinden,
  • beschreiben die Anatomie/ Physiologie des Uro-Genitaltrakts bei Männern und erläutern zentrale Grundlagen des Krankheitsbildes Hodenkrebs (Epidemiologie/ Ursachen, Genese und Verlauf/ Therapie) - soweit für das eigene Verständnis in der Situation erforderlich,
  • erklären die Infusionstherapie, insbesondere die Beobachtung und Beobachtungskriterien in der Situation,
  • verständigen sich über Erfahrungen und Erlebnisse von (insbesondere jüngeren) lebensbedrohlich erkrankten oder sterbenden Menschen,
  • verständigen sich über eine für sie mögliche Gestaltung des pflegerischen Angebots und der Gesprächsführung mit Vincent,
  • verständigen sich darüber, welches Fachwissen ihnen bzw. Vincent in dieser Situation Sicherheit vermittelt.

didaktisch methodischer Verlauf

Die Lernenden... Methodik
1 ... informieren sich im Überblick zu Vincents Erkrankung und zu den Aspekten, die in der Situation aus pflegerischer Sicht bedeutsam sein können Lehrer*invortrag oder Selbsterarbeitung mit entsprechendem Arbeitsmaterial - !Hinweis: soll hier nur das Informationsbedürfnis der Lernenden befriedigen - onkologische Pflege mit Krankheitslehre ist ein zentraler Unterrichtsgegenstand im 4. Semester!
2 ... informieren sich im Überblick zum Thema Infusion - Was bedeutet das, was wird verabreicht, worauf muss geachtet werden? Lehrer*invortrag oder Selbsterarbeitung mit entsprechendem Arbeitsmaterial - !Hinweis: soll hier nur das Informationsbedürfnis der Lernenden befriedigen, Thema wird in anderen Unterrichtszusammenhängen aufgenommen und grundlegend vermittelt!
3 ... lesen Hinweise zu den Themen "Sterbebegleitung und Gespräche mit schwerkranken und sterbenden Menschen" sowie "Gespräche mit Angehörigen von schwerkranken oder sterbenden Menschen" und identifizieren die Hinweise, die sie in dieser Situation für Janina (und Vincent/ seine Eltern) hilfreich finden würden Selbsterarbeitung (evtl. arbeitsteilig) - ggf. nach vorausgegangenem Perspektivwechsel (Was können Sie sich vorstellen, was Vincent/ seine Eltern in dieser Situation brauchen?) - Auswahl und Zusammenstellung im Plenum
4 ... entwickeln eine "einfache Handreichung für Janina/ für Auszubildende am Beginn der Ausbildung", wie sie in dieser und vergleichbaren Situationen möglichst professionell agieren können und formulieren damit Antworten auf die Schlüsselfragen 2 und 3 Arbeit in Kleingruppen - Vergleich/ Einschätzung und ggf. wechselseitige Integration der Ergebnisse - Dokumentation, z. B. auf der gemeinsamen elektronischen Plattform der Klasse, um in künftigen Praxiseinsätzen darauf zurückgreifen zu können

Sequenz 4 - Schlüsselfrage 4 - Wie kann ich, Janina, der Stationsleitung, Ramona, gut klar machen, wenn ich mich überfordert fühle, ohne mein Gesicht zu verlieren?

2 Std. (davon Kommunikation: 0,5 Std.)

didaktisch inhaltliche Zuordnung

Die Lernenden...

  • nennen Erkenntnisse zum Umgang mit Überforderungen: Unterscheidung von Anforderung und Überforderung, Pflichten und Rechte von Auszubildenden, Kommunikation mit Vorgesetzten,
  • aktivieren ihre Kenntnisse und Strategien zur Gesprächsführung mit Dienstvorgesetzten in der Pflege,
  • verständigen sich über mögliche Gründe der Stationsleitung, Janina mit der Begleitung von Vincent zu beauftragen,
  • diskutieren mögliche Reaktionen gegenüber der Stationsleitung und entwickeln Wege für eine gelungene Argumentation,
  • reflektieren das Spannungsfeld zwischen dem Gefühl der Überforderung und dem Anspruch, die Aufgabe zu meistern,
  • reflektieren im Ausbildungskontext die Entscheidung zwischen der Übernahme des/ eines Arbeitsauftrages und seiner Ablehnung.

didaktisch methodischer Verlauf

Die Lernenden... Methodik
1 ... unterscheiden die Begriffe Forderung/ Anforderung / Herausforderung/ Überforderung Lehrer*in-Schüler*innen-Gespräch
2 ... verdeutlichen sich die Situation im Fall nochmal und urteilen für sich, wie sie den Auftrag aus Janinas Blickwinkel beurteilen Gruppenarbeit
3 ... bilden 4 Gruppen: Gruppe 1, bestehend aus Lernenden, die sich gut mit dem Gefühl der Überforderung identifizieren können (Janina), überlegt, welche Unterstützung sie sich wünschen würde; Gruppen 2 - 4 entwickeln Beratungsideen für Janina, indem sie in einem Actstorming Handlungsmöglichkeiten in der Situation ermitteln und in einem Kopfstand-Brainstorming Handlungen identifizieren, die die Situation verschlimmern könnten Gruppenarbeit
4 ... Berater*innen stellen ihre Ergebnisse vor - Gruppe Janina diskutiert, was hilft, was nicht hilft, was ggf. auch verletzt Fishbowl
5 ... sammeln und diskutieren in einer abschließenden Evaluation von Sequenz 1, 2 und 4 - ihre Einschätzung, inwiefern Kollegiale Beratung in Krisensituationen wie der, die Janina erlebt hat, unterstützend, hilfreich und förderlich sein kann Plenum - Evaluationsverfahren - z. B. Evaluationszielscheibe

Sequenz 5 - Diffus oder rollenförmig? - Professionelle Beziehungsgestaltung

1 Std. (davon Kommunikation: 0,5 Std.)

didaktisch inhaltliche Zuordnung

Die Lernenden...

  • erklären die theoretische Unterscheidung zwischen diffuser und rollenförmiger Beziehungsgestaltung (Oevermann 1996) am Beispiel der professionellen Haltung gegenüber gleichaltrigen Patient*innen und der professionellen Haltung gegenüber Menschen, die lebensbedrohlich erkrankt sind bzw. möglicherweise bald versterben (erste Annäherung, wird im Verlauf der Ausbildung vertieft),
  • reflektieren den Widerspruch zwischen diffuser und rollenförmiger Beziehungsgestaltung in der konkreten Situation.

didaktisch methodischer Verlauf

Die Lernenden... Methodik
1 ... erarbeiten die Merkmale professioneller Beziehungsgestaltung Textarbeit in Partner*innen- und / oder Kleingruppenarbeit (vgl. Dokument im Anhnag: AB-Sequenz 5 - diffus oder rollenförmig)
2 ... wenden die theoretischen Erkenntnisse auf die bearbeitete Fallsituation an und leiten aus der Erarbeitung in der Lernsituation Erkenntnisse für ihre eigene Praxis ab Diskussion im Plenum

Hinweise zur Unterrichts-vorbereitung

Voraussetzungen, Weiterführungen, Alternativen

Voraussetzungen


Weiterführungen


Parallelen

Anhang

Entwicklung


Dokumente

Didaktischer Kommentar

Die Begegnung mit schwerkranken, sterbenden oder auch verstorbenen Menschen stellt in Unterrichtseinheiten zur Reflexion des ersten praktischen Einsatzes eine häufige, oftmals verstörende Herausforderung der Auszubildenden dar.

Um diese Herausforderung mit einem etwas größeren Abstand zu bearbeiten, wird auf eine Fallsituation zurückgegriffen, die keine unmittelbare Erfahrung aus der Lerngruppe als Grundlage hat. Gleichzeitig werden anhand dieser Fallsituation verschiedene methodische Interventionen der Kollegialen Beratung eingeführt und reflektiert – auch hier bietet der „fremde“ Fall die Möglichkeit einer inneren Distanzierung von den Aspekten, die zu starke persönliche Berührungspunkte betreffen könnten.

Literatur

Weiterführende Internetlinks:

cc 0