Einführung in die Neurologie und die therapeutische Berührung
Der Fall
Carola Thimm lebte in einem minimalen Bewusstseinszustand im Pflegeheim
„Ein stechender Schmerz jagt durch meinen Kopf. In der Ferne sehe ich einen Spaziergänger auf einem der Felder, über mir zieht ein Bussard seine Kreise am wolkenlosen Frühlingshimmel. Sein Schrei, der spitz in meinen Ohren klingt, ist das Letzte, was ich in diesem Moment wahrnehme – dann ist plötzlich alles schwarz.“
Ein Aneurysma war am Pfingstmontag in Carola Thimms (35) Gehirn geplatzt. Spaziergänger fanden sie ohnmächtig an einem Feldweg, ließen sie ins Krankenhaus bringen. Zwei Operationen am offenen Kopf, danach versetzten die Ärzte sie in ein künstliches Koma. Doch daraus wachte sie nicht wieder auf. Apallisches Syndrom nennt sich der Zustand, in dem Carola Thimm in dieser Zeit lebte. Wachkoma. Das Gehirn war so stark geschädigt, dass das Großhirn teilweise oder ganz ausfiel. Zwischenhirn, Hirnstamm und Rückenmark arbeiteten weiter.
„Im Dezember 2007 kam ich in ein Pflegeheim. Eigentlich wurde ich dort eingeliefert in der Annahme, dass ich da sterben werde. Die Ärzte hatten kaum noch Hoffnung, die Krankenkasse war nicht mehr bereit, den teuren Aufenthalt im Krankenhaus und in der Reha zu bezahlen. Kann ich auch nachvollziehen. Das Heim war sehr hilfreich für mich. Letztendlich haben mich die Leute da mit ihren guten Ideen gerettet.
Ich war die Jüngste im Haus und habe in der ersten Phase mehr Aufwand verursacht als die Hundertjährigen. Weil ich so stark gähnte, mussten sie mir mehrfach am Tag den Kiefer wieder einrenken.
Es stellte sich heraus, dass meine Müdigkeit und Inaktivität zu diesem Zeitpunkt eigentlich nur noch an den Medikamenten lag. Sie wurden umgestellt – zwei Wochen später erwachte ich aus dem Wachkoma. Dies soll keine Beschwerde sein, weil mir die Medikamente zunächst das Leben gerettet haben.
Aber mein Körper hatte sich wohl inzwischen geändert und benötigte andere Medikamente – oder eine andere Menge. Ich danke den Mitarbeitern im Altenheim noch heute, dass sie so auf mich geachtet und meine Veränderungen wahrgenommen haben.
Lange habe ich nur gelegen, nun durfte ich endlich in den Rollstuhl. Allmählich reagierten meine Gesichtsmuskeln, schließlich kam meine Mimik zurück. Und diesmal bemerkte es nicht nur meine Mutter. Zunächst kommunizierte ich über die Tauchersprache: Ich formte mit Daumen und Zeigefinder ein O, das ist das Okay-Zeichen der Taucher.
Erst da begriffen wirklich alle, dass ich alles seit langem mitbekommen hatte. Aus meinem Mund bekam ich aber noch lange kein Geräusch – geschweige denn ein Wort – heraus. Das dauerte Monate.“
Auszug aus einem Zeitungsartikel, erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 19. Januar 2016, 12:09, https://www.sueddeutsche.de/leben/wachkoma-ich-konnte-alles-sehen-und-hoeren-aber-mein-mund-bewegte-sich-nicht-1.2799473-4 (Zugriff: 14.10.2018).
Situations-merkmale
Zielgruppe
- Menschen im Erwerbsalter (30 – 69 Jahre)
- andere Berufsgruppen
Pflegeanlass
- Einschränkung in der Kommunikation
- Einschränkungen in der Mobilität
- neurologische Erkrankungen
Lernsequenzen
Sequenz 1 - Was passiert, wenn in der Schaltzentrale (fast) nichts mehr funktioniert? Eine Annäherung an die Situation von Carola Thimm und dem Leben im minimalen Bewusstseinszustand
3 Std. (davon Kommunikation: 0,5 Std.)
didaktisch inhaltliche Zuordnung
Die Lernenden...
- erklären Ursachen und pathophysiologische Zusammenhänge, die zu einem Wachkoma führen können,
- erklären ein mögliches Vorgehen bei der Diagnostik des Apallischen Syndroms (Wachkoma),
- erläutern die Epidemiologie zum Wachkoma in Deutschland,
- identifizieren zum Krankheitsbild Apallisches Syndrom (Wachkoma) mögliche Ressourcen der Patient*in als Ansatzpunkte für Pflegeinterventionen,
- erläutern Symptomatiken von Wachkomapatient*innen und mögliche Defizite, die durch Pflege ausgeglichen werden müssen,
- leiten von den erarbeiteten Symptomen des Krankheitsbildes und den Ressourcen pflegerische Interventionen ab und begründen diese,
- vollziehen aus einer autobiografischen Schilderung die Erlebnisse einer Frau nach, die aus dem Wachkoma zurück ins Leben gekommen ist, und nähern sich einer Vorstellung von dieser Lebenssituation an,
- verständigen sich über evtl. Begegnungen und Erfahrungen mit zu pflegenden Menschen in einem Koma/ Wachkoma und die Gefühle, Vorstellungen und Gedanken, die sie mit dieser Situation verbinden,
- bilden Hypothesen zu den möglichen Bedürfnissen von Wachkomapatient*innen.
didaktisch methodischer Verlauf
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Die Lernenden... |
Methodik
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1 |
... erschließen sich den Fall, stellen Nachfragen und bringen ggf. bereits vorhandene, persönliche Erfahrungen mit Wachkomapatient*innen ein |
Einzel-/ Partner*innenarbeit -> Lehrer*in-Schüler*innen-Gespräch mit Raum für Diskussion und Gedankenaustausch |
2 |
... erfassen mit Hilfe von Auszügen aus der Fachliteratur zentrale Informationen zum Apallischen Syndrom / Wachkoma und seinen möglichen Ursachen und greifen zunächst einfache Symptombeschreibungen und pathophysiologische Erklärungen auf, wobei sie Zusammenhänge zunächst selbstständig im Austausch untereinander erarbeiten und ungeklärte Fragen ins Plenum einbringen |
Partner*innenarbeit (Leittextmethode), Schüler*innen-Gespräch im Plenum |
3 |
... überlegen und diskutieren ausgehend von der Perspektive der Bewohnerin: "Was kann ich (als Wachkomapatientin), obwohl ich scheinbar nichts mehr kann?" und halten ihre Überlegungen auf Plakaten fest |
Gruppenarbeit (Ressourcen) |
4 |
... erweitern anschließend ihre Überlegungen und gehen dabei der Frage nach "Was kann ich nicht mehr (als Wachkomapatientin), wenn ich nichts mehr kann?" und halten diese ebenfalls fest |
Gruppenarbeit (defizitäre Sichtweise) |
5 |
... identifizieren ausgehend von ihren bereits erarbeiteten Ergebnissen die möglichen Bedürfnisse der Bewohnerin, benennen entsprechend den Pflegebedarf, legen Ziele und Maßnahmen fest und leiten so Ansatzpunkte für therapeutische Angebote und Rehabilitationsphasen- / formen ab |
Gruppenarbeit (Bedürfnisse - Bedarf) |
6 |
... recherchieren und identifizieren Möglichkeiten der Kommunikation der/ des Wachkomapatient*in mit den Pflegekräften bzw. von Seiten der Pflegekräfte mit der Wachkomapatientin/ dem -patienten <- hierfür kann auch ein konkretes Pflegephänomen, wie z.B. Schmerz, gewählt werden |
Gruppenarbeit zur weiteren Wissenserarbeitung (ggf. arbeitsteilig zu unterschiedlichen Aspekten) - Eigenrecherche und/ oder Arbeit mit vorgegebenem Textmaterial - eine Binnendifferenzierung ist möglich, auch im Hinblick auf die Abschlussdiskussion in Sequenz 6 |
7 |
... präsentieren ihren Arbeitsprozess und ihre Arbeitsergebnisse im Plenum und belegen ihre bisher ermittelten Ergebnisse durch Quellenangaben und tauschen sich zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden aus |
Präsentation - die Ergebnisse und aufgeworfene Fragen werden dokumentiert und für den weiteren Unterrichtsverlauf und die Abschlussdiskussion in Sequenz 6 festgehalten |
Sequenz 2 - Wiederholung Berührung - bisherige Erfahrungen mit Berührung in der Pflege
1 Std. (davon Kommunikation: 0,5 Std.)
didaktisch inhaltliche Zuordnung
Die Lernenden...
- fassen unterschiedliche Berührungsqualitäten und Formen der Berührung zusammen,
- beschreiben Formen nonverbaler Kommunikation und Beobachtungen zu nonverbaler Kommunikation in der pflegerischen Beziehungsgestaltung,
- diskutieren auf Grundlage ihrer Erfahrungen Berühren und leibliche Kommunikation als mögliche Formen professioneller Beziehungsgestaltung in der Pflege,
- tauschen sich über ihre Erfahrungen in der Beziehungsgestaltung mit zu pflegenden Menschen, die nicht verbal kommunizieren können, aus.
didaktisch methodischer Verlauf
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Die Lernenden... |
Methodik
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1 |
... wiederholen und reaktivieren ihre Kenntnisse und ihre Erfahrungen zum Thema Berühren/ Berührung in der Pflege sowie zu nonverbaler Kommunikation und den Beobachtungsaspekten in der nonverbalen Kommunikation |
Partner*innengespräch anhand von Leitfragen |
2 |
... tauschen sich im Plenum über ihre Erfahrungen mit und Beobachtungen zu zielgerichteten, bewussten Berührungen mit Patient*innen aus und rezipieren hierzu auch akzentuierte Positionen der Pflegewissenschaft und -forschung |
Lehrer*in-Schüler*innen-Gespräch zu eigenen Erfahrungen, Präsentation und Kommentierung von Thesen/ Zitaten aus der Fachliteratur |
3 |
... halten die wichtigsten Ereignisse und Ergebnisse ihrer Überlegungen fest, diskutieren insbesondere auch widersprüchliche Einstellungen und Haltungen |
gelenkte Diskussion |
Sequenz 3 - Neurologische Grundlagen zum (Total-)Ausfall - verstehen, was nicht "funktioniert"
10 Std. (davon Kommunikation: - Std.)
didaktisch inhaltliche Zuordnung
Die Lernenden...
- identifizieren die zentralen Aufgaben des Nervensystems, wie z.B. Aufnahme und Verarbeitung von Reizen, Reaktion auf Reize, Sinnesfunktion, Steuerung der Bewegung, Steuerung der Organfunktionen, ...
- erklären den Aufbau und die Struktur des Nervensystems,
- erklären den Aufbau eines Neurons, differenzieren zwischen unterschiedlichen Neuronen und Arten von Nervengewebe,
- erklären den Ablauf der Erregungsübertragung/ Reizübertragung,
- nennen zentrale Aufgaben des zentralen Nervensystems (ZNS),
- nennen Definition und Aufgaben des peripheren Nervensystem (PNS) und definieren Reflexe und den Reflexbogen,
- erläutern Grundlagen des autonomen Nervensystems (anatomische Strukturen, Aufgaben, Funktion) sowie Beispiele für die antagonistische Wirkungsweise von Sympathikus und Parasympathikus,
- erläutern Grundlagen des Somatischen Nervensystems (s. o.),
- umreißen mögliche pharmakologische Wirkmechanismen in der Neurologie und leiten Anforderungen für eine gezielte Krankenbeobachtung in der Pflege ab,
- erklären den Begriff der Tiefensensibilität (Propriozeption) sowie mögliche Auswirkungen ihrer Beeinträchtigung und Möglichkeiten der Stimulation und Wahrnehmungsförderung.
didaktisch methodischer Verlauf
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Die Lernenden... |
Methodik
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1 |
... erarbeiten sich die erforderlichen Wissenszusammenhänge bzgl. des zentralen und peripheren Nervensystems bzw. klären sie im Diskurs untereinander sowie mit der/ dem Expert*in |
Schritt 1-4: Strukturierung und Ergänzung der Fragen im Lehrer*in-Schüler*innen-Gespräch, Klärung der Fragen im Expert*innen-/ Lehrer*in-Schüler*innen-Gespräch oder durch Selbsterarbeitung mit vorbereitetem Lehrmaterial bzw. durch Eigenrecherche und anschließendem Wissensaustausch - der Rückbezug zur Situation von Menschen im Wachkoma mit den jeweiligen Funktionsver-lusten und verbliebenen Funktionen sollte dabei möglichst kontinuierlich als Bezugspunkt aufgenommen werden |
2 |
... gehen insbesondere auf zentrale Begriffe, Aufgaben und Funktionen der Nervensysteme ein |
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3 |
... erarbeiten sich den Aufbau relevanter, anatomischer Strukturen sowie wichtiger physiologischer Abläufe |
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4 |
... vollziehen exemplarisch an einem zur Fallsituation passenden Beispiel die möglichen neurophysiologischen Wirkzusammenhänge von Medikamenten nach, um daraus die Bedeutung von systematischer Krankenbeobachtung während der Pflege abzuleiten |
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5 |
... eignen sich zentrale Begriffe und die Bedeutung der Propriozeption als Bezugspunkt für den Beziehungsaufbau und die Förderung in der Fallsituation an |
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Sequenz 4 - Einführung in die therapeutische Berührung - Sinneskanäle fördern und locken
2 Std. (davon Kommunikation: 1 Std.)
didaktisch inhaltliche Zuordnung
Die Lernenden...
- erklären die therapeutische Berührung als ein Konzept der Pflege,
- erläutern die Grundprinzipien, Ziele und Zielgruppen der therapeutischen Berührung,
- nennen die sieben Wahrnehmungsbereiche der therapeutischen Berührung,
- beschreiben die nonverbale Kommunikation und das Vorgehen bei der Beobachtung nonverbaler Kommunikation als ein Kernelement bei der Umsetzung der therapeutischen Berührung,
- erläutern die besondere Bedeutung der Anamnese in der therapeutischen Berührung,
- identifizieren mögliche Stimulationen unterschiedlicher Wahrnehmungsbereiche,
- beziehen in ihre Interventionsentscheidungen den Forschungsstand zur Evidenz von Angeboten der therapeutischen Berührung ein,
- tauschen sich über ihre Erfahrungen mit Wachkoma-Patient*innen in ihrer bisherigen Ausbildung aus,
- tauschen sich über ihre persönlichen Eindrücke, Gedanken und Meinungen zur Sinnhaftigkeit von therapeutischer Berührung aus.
didaktisch methodischer Verlauf
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Die Lernenden... |
Methodik
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1 |
... aktivieren ihr Wissen, sichten ihre Arbeitsergebnisse aus Sequenz 1 und greifen hierzu insbesondere die Bedürfnisse sowie die abgeleiteten, pflegerischen Maßnahmen für Frau Thimm auf |
Lehrer*in-Schüler*innen-Gespräch |
2 |
... lernen die Definition, die Ziele und die Grundprinzipien der therapeutischen Berührung kennen und leiten Begründungen für die Bedeutung dieses Konzepts für Wachkomapatient*innen ab |
Lehrer*invortrag in Verbindung mit Lehrer*in-Schüler*innengespräch |
3 |
... erschließen sich auf der Grundlage ihrer Kenntnisse aus Sequenz 3 die sieben Wahrnehmungsbereiche der Basalen Stimulation |
Lehrer*in-Schüler*innen-Gespräch |
4 |
... leiten in Partner*innenarbeit Möglichkeiten der Stimulation der unterschiedlichen Wahrnehmungsbereiche her (alltäglich - pflegerisch) |
Partner*innenarbeit / Partner*innenübung |
5 |
... beziehen die Möglichkeiten der Stimulation auf die besondere Situation der Patientin im Fallbeispiel |
Lehrer*in-Schüler*innengespräch |
6 |
... identifizieren weitere mögliche Zielgruppen für therapeutische Berührung, begründen ihre Auswahl und stellen ihre Überlegungen zur Diskussion |
Partner*innenarbeit / -übung -> Plenumsdiskussion -> Hinweise des/ der Lehrenden auf die entsprechenden Wiederaufnahmen des Konzepts im weiteren Ausbildungsverlauf |
Sequenz 5 - Stationenlernen zu unterschiedlichen Techniken der therapeutische Berührung
4 Std. (davon Kommunikation: 1 Std.)
didaktisch inhaltliche Zuordnung
Die Lernenden...
- benennen Ziele und Zielgruppen ausgewählter Techniken der therapeutischen Stimulation und dokumentieren sie, z. B. Initialberührung, Atemstimulierende Einreibung, Orale Stimulation, Visuelle Stimulation, Tiefensensibilität/ Lage- und Bewegungserfahrung,
- erproben, kombinieren und variieren unterschiedliche Techniken in der Umsetzung und diskutieren Vor- und Nachteile,
- leiten Schritte für die Entwicklung von individuellen Angeboten in der basalen Stimulation ab,
- erleben das Reizangebot bzw. den Mangel von Reizen und Spürinformationen aus der Perspektive pflegeabhängiger Menschen,
- tauschen sich über ihre Erfahrungen mit verschiedenen Interventionen aus der Perspektive der Pflegenden und der zu pflegenden Menschen aus.
didaktisch methodischer Verlauf
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Die Lernenden... |
Methodik
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1 |
... kennen das Prinzip, den Aufbau und die Regeln im Lernangebot sowie das Vorgehen bei der Dokumentation an den jeweiligen Stationen |
Einführung zum Stationenlernen durch Lehrer*invortrag |
2 |
... teilen sich in Kleingruppen auf und bearbeiten im kontinuierlichen Wechsel einzelne Lernstationen und Erfahrungsräume, z. B. Selbsterfahrungsübungen im Erleben von Reizmangelsituationen, Initialberührung und basalstimulierende Ganzkörperpflege, atemstimulierende Einreibung, Essen als therapeutische Stimulation, orale Stimulation und Mundpflege, visuelle Stimulation im Gesichtsfeld am Pflegebett, Lagerung mit dem Ziel einer therapeutischen Stimulation |
Stationenlernen in Kleingruppen - jede Station besteht aus einem einführenden Text (Steckbrief oder Quartettkarte zur jeweiligen Technik), einer Übung/ Selbsterfahrung, sowie der (Erfahrungs-)Dokumentation |
3 |
... bewerten die einzelnen Techniken im Plenum anhand eines Stimmungsbildes |
Stationenlernen in Kleingruppen |
4 |
... diskutieren ihre Erfahrungen aus den einzelnen Übungen und vergleichen ihre Steckbriefe bzw. Quartettkarten |
Lehrer*in-Schüler*innengespräch |
Sequenz 6 - "Lohnt sich der Aufwand?" - Pflegeethische Fragen in der Diskussion
4 Std. (davon Kommunikation: 3 (aus Kompetenzbereich II.3 - Ethik) Std.)
didaktisch inhaltliche Zuordnung
Die Lernenden...
- identifizieren ethische Fragen in Verbindung mit der Pflege von Menschen im Wachkoma,
- reflektieren vor dem Hintergrund des Fallbeispiels in einer ersten Annäherung Fragen im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Verantwortung bzw. Fürsorge und Verteilungsgerechtigkeit.
didaktisch methodischer Verlauf
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Die Lernenden... |
Methodik
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1 |
... knüpfen an die ersten Recherchen und Lernfragen aus Sequenz 1 an und machen sich ihren Kompetenz- und Erkenntnisgewinn aus der bisherigen Lernsituation bewusst |
Lehrer*in-Schüler*innengespräch und/ oder geeignete Evaluationsmethode |
2 |
... sammeln offene Fragen bzw. Dilemmata in Verbindung mit dem Fallbeispiel |
Lehrer*in-Schüler*innengespräch |
3 |
... recherchieren/ rezipieren auszugsweise aktuelle (auch widersprüchliche) Forschungsergebnisse zu Prognose und Lebensqualität für Wachkomapatient*innen |
Schritt 1-2: Aufnahme und ggf. Vertiefung der Rechercheergebnisse aus Sequenz 1 und/ oder Erweiterung der Kenntnisse durch vorgegebenes Textmaterial (in Abhängigkeit von der Aufnahme- und Differenzierungsfähigkeit der Lernenden) |
4 |
... recherchieren zu den Behandlungs- und Pflegekosten / zur Leistungserbringung sowie zu den Anforderungen in den verschiedenen Versorgungsbereichen (Intensivstation, Wachkomastation, Rehaklinik, stationäre Langzeitversorgung, häusliche Pflege mit Heimbeatmung) bzw. rezipieren vorgelegte Zahlen hierzu und rechnen diese anhand der epidemiologischen Daten in Deutschland hoch |
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5 |
... konkretisieren vor dem Hintergrund der vorangegangenen Erarbeitungsphase mindestens ein ethisches Dilemma im Spektrum der Versorgung - vorzugsweise im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Verantwortung/ Fürsorge und Verteilungsgerechtigkeit |
Lehrer*in-Schüler*innengespräch |
6 |
... führen dazu eine Pro- und Contra-Diskussion zu der mit dem Fallbeispiel aufgeworfenen Frage: "Wachkoma? Lohnt sich das alles überhaupt noch und wer trägt die Kosten?", halten dabei wesentliche Argumente der beiden Positionen fest und finden abschließend ein (vorläufiges) Resümee |
gelenkte Pro- und Contradiskussion <- auch als Fishbowl-Methode/ Podiumsdiskussion oder auch als Dilemma-Diskussion zu einer entsprechend konstruierten Fallsituation |
Hinweise zur Unterrichts-vorbereitung
- Für den in Sequenz 1 beschriebenen Einstieg in die Lernsituation sollten die Lernenden bereits eine entsprechende Selbstlernkompetenz in der selbständigen Wissensrecherche entwickelt haben.
- Für Sequenz 4 muss der Lehrer*invortrag orientiert am aktuellen Stand der Fachdiskussion vorbereitet und mit darauf aufbauenden Unterrichten abgestimmt werden, insbesondere mit der Lernsituation --> Im Leben mit Demenz unterstützen, Sequenz 4 und 5.
- Für Sequenz 5 müssen Informationsmaterialien und Handlungsanweisungen zu den jeweiligen Stationen sowie Übungsmaterialien und räumliche Bedingungen vorbereitet werden, wünschenswert wäre die Einplanung eines Teamteachings, um die Schüler*innen intensiver bei ihren Übungen zu begleiten.
- Für Sequenz 6 muss ggf. - abhängig von den Rechercheergebnissen und Präsentationen in Sequenz 1 - zusätzliches Material vor- und aufbereitet werden, dass den Lernenden eine kontroverse und möglichst differenzierte Sichtweise auf die verschiedenen ethischen Dimensionen des Themas ermöglicht.
Voraussetzungen, Weiterführungen, Alternativen
Voraussetzungen
- Die Lernenden sollten über gute Basiskenntnisse zur Anatomie/ Physiologie des Bewegungsapparates verfügen.
- Eine Einführung in die Grundlagen der Neurophysiologie zur Reizleitung bzw. zur Physiologie der (Schmerz-)Wahrnehmung und des Bewusstseins wird vorausgesetzt, z. B. in –> Ingos Tagebuch/ Blog.
- Weitere Grundlagen bilden Einführungen in die pflegerische Kommunikation, speziell die nonverbale Kommunikation, sowie in Beziehungsgestaltung durch Berührung in der Pflege, die im NaKomm vermittelt werden durch –> Merkmale und Bedeutung pflegerischer Kommunikation und v. a. –> Berührung – Interaktion in der körpernahen Versorgung.
- Die Lernenden sollten sich für die Diskussion in Lernsequenz 6 bereits in vorhergehenden Lernsituationen mit ethischen Konflikten und Entscheidungsfragen auseinandergesetzt haben, z. B. in –> Mund nicht geöffnet.
Weiterführungen
- Die Bedeutung der Selbstwahrnehmung des eigenen Körpers (Körperbild/ Körperschema) mit dem Spannungsfeld zwischen „Körper haben“ und „Leib sein“ als Bezugspunkte pflegerischer Arbeit oder auch weitere Aspekte von „Pflege als Berührungsberuf“, mit denen die leib-körperlichen Aspekte in die pflegerische Interaktion einbezogen werden, um Berührungen gezielt einzusetzen, werden im Ausbildungsverlauf weiter entwickelt, z. B. in –> Wie ein schwerer Kartoffelsack, –> Ein Mädchen, –> Im Leben mit Demenz unterstützen, –> Durch Verlaufskurven begleiten, –> Ich kann da gar nicht hinschauen, –> Chorea Huntington.
- Dabei werden die Erfahrungen, Kenntnisse und Kompetenzen aus den Sequenzen 4 und 5 dieser Lernsituation in den Sequenzen 4 und 5 der Lernsituation –> Im Leben mit Demenz unterstützen mit Blick auf eine weitere Zielgruppe aufgenommen und inhaltlich weitergeführt.
- Auch Aspekte der Neurologie sowie zur Psychobiologie der Kognition und Steuerung von Aktivität als „zentrale“ physiologische Grundlegungen der Interaktionsgestaltung sollen im anschließenden Ausbildungsverlauf weiterentwickelt und vertieft werden, z. B. in –> Biografiearbeit in der Langzeitpflege zu den Gedächtnisfunktionen, in –> Im Leben mit Demenz unterstützen hinsichtlich weiterer kognitiver und emotionaler Funktionen, in –> Durch Verlaufskurven begleiten bezüglich komplexer Bewegungsabläufe sowie in –> Ich verstehe meinen Mann nicht mehr in Bezug auf umfassende Pflegeprozessplanungen und Interaktionsgestaltungen im Rahmen der neurologischen Rehabilitation nach Hirninfarkt mit Aphasie.
- Ethische Konflikt- und Entscheidungsdiskussionen werden im NaKomm in weiteren Lernsituation fallbezogen aufgegriffen, z. B. in –> Frau Krabbe.
Anhang
Entwicklung
- Die Lernsituation wurde im Rahmen des Projekts "Nationales Mustercurriculum Kommunikative Kompetenz in der Pflege" (NaKomm) entwickelt.
Literatur
- Abt-Zegelin, A.; Schnell, M. (Hrsg.) (2005): Sprache und Pflege. 2. vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. Pflegepraxis. Bern: Huber.
-
Berlit, P. (2007): Basiswissen Neurologie: mit 64 Tabellen. 5. überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin: Springer.
- Bienstein, C.; Hannich, H.-J. (2001): Forschungsprojekt zur Entwicklung, Implementierung und Evaluation von Förderungs- und Lebensgestaltungskonzepten für Wachkomapatienten und Langzeitpatienten im stationären und ambulanten Bereich, anhand von zu entwickelnden Qualitätskriterien, Dorsten.
- Bienstein, C.; Fröhlich, A. (2012): Basale Stimulation® in der Pflege: Die Grundlagen. 7. Auflage. Bern: Hogrefe, vorm. Hans Huber.
- Birbaumer, N. (2005): Nur das Denken bleibt − Neuroethik des Eingeschlossenseins. In: E.-M. Engels, E. Hildt (Hrsg.): Neurowissenschaften und Menschenbild. Paderborn: Mentis.
- Blanche, E. I.; Schaaf, R. C. (2004): Propriozeption: ein Eckstein der Sensorischen Integrationstherapie. In: Smith Roley, S.; Blanche, E. I.; Schaaf, R. C. (Hrsg.): Sensorische Integration: Grundlagen und Therapie bei Entwicklungsstörungen. Berlin: Springer, 113–131.
- Elsbernd, A. (2000): Pflegesituationen. Erlebnisorientierte Situationsforschung in der Pflege. Bern: Hans Huber.
- Fröhlich, A. (2001): Sprachlos bleibt nur der, dessen Sprache wir nicht beantworten. Grundzüge des somatischen Dialogs. In: Orientierung, 25 (2), 20-22.
- Heimerl, K.; et al. (2010): Forschungsprojekt Validation und Basale Stimulation. Voraussetzungen und Wirkweisen von zwei Methoden zur personenzentrierten Kommunikation mit Menschen mit Demenz. Abschlussbericht. Universität Klagenfurt. Online: https://www.uni-klu.ac.at/pallorg/downloads/FP_Validation_Basale_Stimulation_Abschlussbericht_2010.pdf (30. Jan. 2019).
- Helmbold, A. (2007): Berühren in der Pflegesituation. Intentionen, Botschaften und Bedeutung. Bern: Huber.
- Isfort, M.; Brühl, A.; Bünte, A.; Jorch, G.; Kray, A. (2009): Elternintegration in der neonatologischen Intensivstation. Stress verringern und Entwicklung fördern. In: Pflegezeitschrift, 62 (1), 10–13.
- Kempa, S. M. (2016): Den Klienten lesen lernen — Pflege von Menschen im Wachkoma. Heilberufe, 68 (5), 52-53.
-
Mumenthaler, M.; Mattle, H. (2006): Kurzlehrbuch Neurologie: 135 Tabellen. 1. Auflage. Stuttgart: Thieme.
-
Nydahl, P. (Hrsg.) (2000): Basale Stimulation: neue Wege in der Intensivpflege. 3. vollständig überarbeitete Auflage. München: Urban & Fischer.
- Scharaditsch, K.; Shaha, M. (2012): Anwendbarkeit der „Basalen Stimulation“ und „Therapeutic Touch“ bei betagten Menschen mit Demenz. Artikel ÖPZ 2012. Österreichische Pflegezeitschrift, (1), 19-22.
-
Thimm, C.; Müller, D. (2016): Mein Leben ohne mich. Wie ich fünf Jahre im Koma erlebte. 3. Auflage. Ostfildern: Patmos.
- Tolle, P. (2001): To treat or not to treat? – Aspekte zur ethisch-moralischen Diskussion und zur rehabilitativen Pflege von Erwachsenen im Wachkoma. In: Kriesel, P.; Krüger, H.; Piechotta, G.; Remmers, H.; Taubert, J. (Hrsg.): Pflege lehren – Pflege managen. Eine Bilanzierung innovativer Ansätze. Franfurt/Main: Mabuse, 289-301.